Baby-Treff in der Hebammenpraxis Jork: Mütter und ihre Babys sitzen und liegen auf Matten im Raum, einige stillen. Eine junge Frau ist gerade im Aufbruch, ein warm eingepacktes, brüllendes Neugeborenes im Arm. Der Kleine sei erst elf Tage alt, berichtet sie. In Polen, wo sie herkomme, sei es ganz selbstverständlich, dass die Hebamme aus dem Krankenhaus auch die Nachsorge zu Hause übernehme. Hier nicht mehr, wie sie bei der Entlassung aus dem Krankenhaus überrascht feststellen musste.
„Wir haben ihr Kind gewogen, den Bauchnabel angeguckt, Fragen zum Stillen beantwortet und das Baden erklärt“, erläutert die Hebamme Iris Freyer, die mit ihrer Kollegin Claudia Stamer die Hebammenpraxis Jork betreibt. Sonst passiere all das bequem bei der Nachsorge zu Hause. Aber die Hebammen hatten keine Kapazitäten mehr, als der junge Vater bei ihnen um Hilfe bat. Die Notlösung war der Besuch beim Babytreff. Bis Ende September sei sie ausgebucht, im Oktober werde es schon enger, berichtet Claudia Stamer. Die Lage hat sich zusätzlich verschärft, weil eine Jorker Praxiskollegin weggezogen ist.
Wer im Landkreis Stade eine Hebamme für die Wochenbettbetreuung finden will, muss früh anfangen. Die Anzahl in der Geburtshilfe tätiger, freiberuflicher Hebammen ist in den letzten Jahren bundesweit rückläufig. Auch für Wochenbettbetreuung und Schwangerenvorsorge wird es immer schwieriger, eine Hebamme zu finden, wie Claudia Stamer weiß. Sie gehört zum freiberuflichen Hebammenteam des Kreissaals im Elbe Klinikum Buxtehude. Dort wurden bis vor einiger Zeit alle Frauen vom Anfang bis zum Ende der Geburt von einer Hebamme betreut. Diese übernahm in der Regel auch die Nachsorge mit Hausbesuchen und war für die Frauen nicht nur in den ersten Wochen nach der Geburt, sondern auch danach ansprechbar.
Claudia Stamer bekommt zurzeit pauschal 300 Euro für jede Geburt, die bis zu elf Stunden dauert, Einzelstunden werden danach zusätzlich bezahlt. Aber die Arbeitsbelastung ist stark, zumal eine Geburt von Anfang bis Ende oft länger dauert.
Zusätzlich ist die Haftpflichtversicherung für freiberufliche Hebammen, die Geburtshilfe anbieten, wie berichtet, extrem gestiegen: 6274 Euro hat Stamer 2015 bezahlt. 2011, als sie anfing, waren es noch 4200 Euro gewesen. Weil die hohen Haftpflichtkosten die berufliche Existenz vieler Hebammen gefährdete, wurde zuletzt ein Sicherstellungszuschlag von rund 4000 Euro jährlich ausgehandelt. Wie Stamer berichtet, soll er rückwirkend ab Juli 2015 gezahlt werden. Zurzeit werde das allerdings wieder vor der Schiedsstelle verhandelt. „Wir sind stolz, freie Hebammen zu sein, aber wir überlegen mittlerweile auch schon, uns anstellen zu lassen“, sagt Claudia Stamer. Im Stader Klinikum, wo ihre Kollegin Iris Freyer arbeitet, sind die Hebammen ohnehin angestellt und arbeiten in Schichten.
Wegen Überlastung suchten die Buxtehuder Hebammen verzweifelt Verstärkung, fanden aber nicht genügend Kolleginnen. Deshalb haben sie beschlossen, nur noch in 12-Stunden-Schichten zu arbeiten – und nicht mehr automatisch auch die Nachsorge nach der Geburt zu übernehmen. Nun bieten sie montags von 10 bis 12 Uhr eine Hebammensprechstunde an.
„Allein der Gedanke, die Hebamme jederzeit anrufen zu können, ist schon beruhigend“, berichtet Susanne Kaiser, die von der Hebammenpraxis Jork betreut wurde und nun regelmäßig den Baby-Treff besucht. Ihrer Hebamme konnte sie auch im Schlafanzug die Tür öffnen und „jede Frage stellen, von den Pickelchen auf Babys Nase bis zum Stress beim Stillen“. Kerstin Daunicht auf der Matte neben ihr kann dem nur beipflichten: „Wir konnten unsere Hebamme immer anrufen oder eine SMS schicken.“ Carolin Gratzer gibt zu bedenken, dass Frauen heute nicht mehr eine Woche im Krankenhaus bleiben, sondern meist schon nach drei Tagen aus der Klinik entlassen werden, auch nach Kaiserschnitt. Sie kommt aus Neuenfelde im Hamburger Teil des Alten Landes und hat 60 Hebammen angerufen, bis sie in Jork endlich fündig wurde.
Hebammenmangel herrscht auch im Kreis Stade, weiß Dörte Heyn vom Stader Geburtshaus. Besonders gravierend sei es in der sommerlichen Urlaubszeit, um Weihnachten herum – und in den ländlichen Gebieten: „In den Städten geht es meist noch, aber Himmelpforten oder Kehdingen sind Mangelgebiete, und auch in Harsefeld ist es richtig eng.“ Harsefeld wachse und wachse – nicht aber das Hebammenangebot. Übrigens lässt sich in den letzten Jahren auch deutschlandweit ein Anstieg der Geburtenzahlen beobachten. Das Elbe Klinikum Stade vermeldete schon früh im Dezember 2015 den Rekordwert von mehr als 1000 Geburten, und im Buxtehuder Klinikum liegen die Zahlen in den letzten Jahren ungefähr konstant bei um die 800 Geburten.
Der Hebammenmangel schränkt die Wahlfreiheit der Frauen ein: Geburten im Geburtshaus sind seit 2011 nicht mehr möglich. Die Hebammen bieten sie wegen der immer schwierigeren Konditionen nicht mehr an. Auch Hausgeburten gibt es kaum noch, die wenigen Hebammen, die dazu bereit sind, kommen aus Nachbarkreisen und haben weite Anfahrten.
„Dabei ist im Sozialgesetzbuch geregelt, dass jede Frau wählen darf, ob sie in einer Klinik, einem Geburtshaus oder zu Hause gebären will“, erläutert Lea Beckmann, Leiterin des dualen Hebammen-Studiengangs der Hochschule 21 in Buxtehude. In Deutschland gebe es dazu die Pflicht, eine Hebamme hinzuzuziehen – kein Gynäkologe darf ohne Hebamme eine Geburt leiten. Die Wahlfreiheit der Frauen werde aber durch die teure Haftpflichtversicherung ausgehebelt: „Geburten sind nicht riskanter geworden, im Gegenteil, aber bei einer Geburt kann natürlich etwas passieren.“ Heutzutage werde in solchen Fällen oft geklagt – aber nicht unbedingt von den Eltern, sondern von den Krankenkassen, um die Folgekosten nicht zu übernehmen. Das treibe die Prämien in die Höhe. Gleichzeitig sei die Bezahlung nicht gut genug. „Frauen sollten sich nicht opfern, um Hebammen sein zu dürfen, sondern in einem Beruf mit so großer Verantwortung ruhig Geld verdienen.“
An der Hochschule 21, deren erster Jahrgang im vierten von acht Semestern auf dem Weg zum Bachelor ist, gebe es trotzdem genug Nachfrage: „Es ist eben ein unglaublich schöner Beruf.“ Arbeitslos werde keine. Sie seien überall gefragt, und es würden bei weitem nicht genug Hebammen ausgebildet.
Dabei haben Schwangere und Mütter einen gesetzlichen Anspruch auf die Hebammenversorgung, betont Beckmann: „Krankenkassen und Politik müssen das Thema endlich ernst nehmen und sich darum kümmern, dass dieser Berufsstand keinen Schaden nimmt.“