Nach sieben Jahrzehnten kehrte Gizella Mann zurück an einen Ort, an dem sie als 14-Jährige zur Arbeit gezwungen worden war, der ihr damals nach der Hölle von Auschwitz wie der Himmel vorgekommen sei, wie sie selber sagt. Die positiven Gefühle überwiegen. An freundliche deutsche Fabrikarbeiterinnen, die ihr heimlich Brote zusteckten, erinnert sie sich. Dankbar ist sie auch dem Produktionsleiter in der Philips-Valvo-Radioröhrenfabrik. Er habe der SS gesagt, er wünsche keine Gewalt in seiner Fabrik, um die Produktion nicht zu stören. Eine SS-Wärterin habe den frierenden Frauen Stümpfe zukommen lassen. „Jedes nette Wort bedeutete uns eine Menge“, sagt Gizella Mann. Aber auch von Grausamkeit und Misshandlung in der Wohnbaracke erzählt sie. Vergessen hat sie nichts – auch nicht ihre Nummer beim Zählappell: 7999 auf Deutsch.
Zum Gespräch im Haus des Bürgermeisters Hans-Jürgen Detje sind ihre Freundinnen Rosemarie Schneider und Sonja Michel, Tochter Chaya Kotlowitz und ihr Großneffe Mordehai Zissmann mitgekommen sowie Reinhild Marzahn von der „Gruppe gegen das Vergessen“. Mit dabei: Zeitzeuge Otto Duve, ebenfalls Jahrgang 1929. Er hatte 1944 die Frauen und Mädchen auf ihrem täglichen Gang vom Barackenlager zur Fabrik vorbeiziehen sehen. „Wir hätten etwas tun müssen“, sagt der 86-jährige Horneburger. „Was hätte er machen können?“, entgegnet die ehemalige KZ-Gefangene, „er war doch nur ein kleiner Junge. Und wir wurden gut bewacht.“
Den Horneburgern gibt sie keine Schuld an dem Terror der Nationalsozialisten. Sie hege keinen Groll, denke positiv, sehe immer das Gute im Menschen. Es seien einzelne SS-Wärterinnen gewesen, die ihre Macht auskosteten: wenn nach dem Zählappell Gefangene „für jede kleine Sache“ und oft grundlos geschlagen wurden. „Sie haben uns terrorisiert, wollten uns wehtun. Sie fanden immer mehr Gefallen daran, Macht über uns zu haben, und nutzten sie.“
Bei Arbeiten in der Kälte im Barackenhof wurde die 14-jährige Gizella von einer „schönen, blonden“ SS-Aufseherin so hart ins Gesicht geschlagen, dass ihr Gesicht brannte und sie Sterne sah. Den Grund erfuhr sie nicht, die Frau habe gelächelt, als sie auf sie zukam. Um zu verstehen, ließ sich Gizella danach von einem Mithäftling täglich zehn deutsche Worte beibringen.
Die Geschichte des jüdischen Mädchens Gizella Schöner aus Csengea in Ungarn beginnt früher: im Vernichtungslager Auschwitz. Von ihren sechs Geschwistern überlebten nur die drei älteren Brüder und die Schwester. Ihre 12- und 13-jährigen Brüder, das 22 Monate alte Baby ihrer Schwester und die Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Weil sie sich als 16-Jährige ausgab, wurde Gizella nicht in die Gaskammern geschickt, sondern gleich auf der Rampe von ihrer Familie getrennt und in die Kinderbaracke, Lager C, Block 8, gesteckt. Zusammen mit vier Mädchen, die immer gemeinsam zum Zählappell gingen, versuchte sie, für einen Arbeitstransport selektiert zu werden, um Auschwitz zu entkommen. Vier schafften es, die fünfte wurde aussortiert.
„Als der Güterzug endlich losfuhr, fühlte ich mich frei“, sagt Gizella Mann. Im Vergleich zur Hölle von Auschwitz war Horneburg ein Paradies: „Ich kam im Himmel an.“ Während sie in Auschwitz mit zwölf Mädchen auf einer hölzernen Pritsche zusammengepfercht war, hatte in Horneburg jedes der 18 Mädchen, die sich einen Raum teilten, einen eigenen Schlafplatz im Etagenbett mit Matratze, Decke und Kissen. Morgens gab es Kaffee, mittags Suppe, abends belegte Brote. Zum Überleben reichte es, doch sie weiß noch: „Wir waren immer hungrig, es gab nie genug.“
Vor zwei Tagen ging Gizella Mann zusammen mit ihren Begleitern noch einmal den Weg vom Güterbahnhof, wo sie im Oktober 1944 angekommen war, über die Lange Straße, vorbei am Standort der ehemaligen Lederfabrik, die von der Hamburger Rüstungsfabrik in den letzten Kriegsjahren genutzt wurde. Dann den Vordamm entlang zu dem Gedenkstein, wo damals am Ortsrand die Wohnbaracken standen. Von Horneburg habe sie damals nicht viel gesehen, erzählt Gizella Mann. Von morgens bis abends mussten die Mädchen Radioröhren produzieren. „Wenn wir zur Arbeit gingen und abends zur Baracke zurückkehrten, war es dunkel.“
200 ungarische Jüdinnen waren zu der Zeit in dem Frauenlager untergebracht, zeitweise auch 40 politische Häftlinge aus Holland. Was aus denen geworden ist, weiß Gizella Mann nicht: Nachdem drei der Gefangenen versucht hatten zu fliehen, seien alle (außer drei Arbeiterinnen) gezwungen worden, draußen im Schnee zu übernachten, und später nach Dachau geschafft worden.
Im Frühjahr wurden auch die Mädchen weggebracht: in ein Arbeitslager in Porta Westfalica, dann nach Beendorf. Danach wurden sie immer wieder in Güterwaggons geladen. Eines Nachts blieb der Zug stehen, sie hörten eine Schießerei. Am Morgen sahen sie einen riesigen Leichenberg, alle männlichen Häftlinge aus dem Zug waren erschossen worden. Als der Zug wieder hielt, wurden einige Frauen herausgeholt, und wieder hörten sie Schüsse. „Ich war erleichtert, dass der Wächter auf die Frau neben mir gezeigt hatte und nicht auf mich“, sagt Gizella Mann. Einmal sollten sich die Frauen aufstellen und wurden von Männern mit Maschinengewehren umringt. Plötzlich sauste ein Moped herbei, der Fahrer befahl, mit dem Schießen aufzuhören. Die Fahrt ging weiter. „Wir waren nur noch Haut und Knochen und sehr schwach“, erzählt Gizella Mann. Bei einem langen Marsch zu einer Halle brachen Frauen erschöpft zusammen – auch sie wurden erschossen.
Schließlich landete Gizella, inzwischen 15, in Schweden, eineinhalb Jahre später kehrte sie nach Ungarn zurück. 1948 wanderten sie und ihr Mann nach Israel aus, dann 1964 in die USA. Seit neun Monaten hat sie auch wieder einen Wohnsitz in Israel.
Zwei Kinder und fünf Enkel habe sie, und sie sei mit vielen Freunden gesegnet, sagt die 86-Jährige, die erst spät im Leben „ihren Glauben an Gott verlor“. Sie sei jeden Tag dankbar für kleine Dinge, liebe das Leben und wisse die Freizeit zu würdigen, jederzeit tun zu können, was sie möchte. Ihre Hoffnung heute: Man sollte Kindern die schönen Dinge des Lebens nahebringen, damit aus Hass Frieden wird.
Gesprächsabend
Einen öffentlichen Gesprächsabend mit der Zeitzeugin Gizella Mann mit dem Titel „Gizella Manns Weg nach Horneburg. Ein Schicksal aus dem Frauenlager“ veranstaltet die „Gruppe gegen das Vergessen“ am Freitag, 20. November, um 18 Uhr in der Mensa der Johann-Hinrich-Pratje-Schule, Langenbeckstraße, in Horneburg.